KLASSIK KERNSANIERT

The Winner is: Max Richter mit „Recomposed Vivaldi“! Am 6.10. wird dieses Werk in Berlin mit einem Klassik-Echo ausgezeichnet. Dem Komponisten Max Richter gelang mit seiner „Vier Jahreszeiten“-Bearbeitung ein Meisterwerk. Barock heute: Melodien wurden variiert, Anleihen von Minimal Music installiert, der Sound aktualisiert – Vivaldi kernsaniert! Eingespielt wurde es von Daniel Hope, Dirigent André de Ridder und dem Konzerthausorchester Berlin.
Fünf Alben erschienen bislang in der Recomposed-Reihe, die 2005 startete. Die Idee war simpel: ein Künstler bearbeitet, remixt, „recomposed“ Material aus dem Deutschen Grammophon-Archiv.
Neu war das nicht. Im Jazz, Pop, Dance oder Rock waren vor allem Remixe gelernt. Diese Kultur entstand Anfang der 80er Jahre, wo aus Single-Hits „Maxi“-Versionen mit neuen Beats, Vocals und/oder Instrumenten in einem neuem Mix erschienen. Zunächst für Diskotheken. Je nach Art der Clubs – ob House, Techno, Pop, Rock, Latin usw. – variierten die Sounds und die Grooves. So konnte man den gleichen Track oft in unterschiedlichen „Arrangements“ hören. Durch die zunehmende Formatierung der Radiostationen entstand auch dort ein erhöhter Bedarf an angepassten Mixen.
Die Qualität der Mixe variierte. Zum Teil erkannte man das Ausgangmaterial nicht mehr wieder. Es gab Titel, wo nur noch ein Ton oder ein Riff an das Original erinnerte. Beat und Soundidee des Remixers überlagerten alles. Manchmal war das lustig und hilfreich, manchmal ärgerlich. Der Stellenwert eines Künstlers konnte durch einen Mix beeinflusst werden: so konnte ein cooler Mix einem uncoolen Künstler plötzlich Glaubwürdigkeit verschaffen. Umgekehrt konnte sich ein unbekannter Producer mit einem guten Mix schnell einen Namen machen. Und damit viel Geld verdienen. Ein guter Mix war teuer.
Das klassische Repertoire wurde gern von Popbands aufgegriffen. Sie mixten nicht, sie spielten. „Emerson, Lake & Palmer“, „Ekseption“, James Last und sein Orchester oder Musiker wie Jacques Loussier und Deodato hatten Mega-Hits mit klassischen Werken. Besonders in den 70er Jahren. Immerhin verführte mich die „Pictures At An Exhibition“-LP von ELP dazu, in das Originalwerk reinzuhören.
Remixe gab es nur vereinzelt. Die französischen Universal-Kollegen veröffentlichten ein Album, auf dem Pierre Henrys Werk von verschiedenen DJs bearbeitet wurde. Unter anderem von Fat Boy Slim und DJ Koze. Mein Kollege Martin Hossbach produzierte gemeinsam mit Christian von Borries das Album „Replay Debussy“. Acht Künstler – darunter Ryuichi Sakamoto und Jamie Lidell – bearbeiteten jeweils die gleiche Debussy-Einspielung von „Prélude à l’après-midi d’un faun“. Dafür gab es den „Preis der deutschen Schallplattenkritik“. Das Siegel für Ladenhüter.
Recomposed war nun ein Albumkonzept: pro Album ein Künstler. Die Künstler erhielten Zugriff auf den DG-Katalog. Die Schatztruhe: 100 Jahre Schallplattenproduktion! Tiefenkenntnis des Kataloges war keine Bedingung. Vielmehr Offenheit, Kreativität und Neugierde waren die Kriterien, nach denen wir die Akteure aussuchten. Quereinsteiger waren willkommen.

Nicht alle Titel standen zur freien Verfügung. Bearbeitungen von Werken lebender Komponisten oder derjenigen, die noch nicht länger als 70 Jahre tot sind, müssen generell vom Urheber oder seiner Nachlassverwaltung und von seinem Musikverlag genehmigt werden. Auch bei einzelnen Interpreten muss bei bestimmten Aktivitäten – wie z.B. Kopplungsfreigaben oder Bearbeitungen – die Zustimmung eingeholt werden. Das hängt von den Verträgen ab. Bei einigen Aufnahmen brauchten wir niemanden zu fragen, bei anderen war es teilweise sehr kompliziert. Je erfolgreicher der Künstler, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass man seitens des Künstlers eine Genehmigung benötigt.
Jimi Tenor sollte den Auftakt machen. Tenor hatte sich als vielseitiger Musiker einen Namen gemacht: angefangen von seinen elektronischen Titeln hin zu seinen jazzigen Afrobeat-Ausflügen: er war offen, vielseitig, unberechenbar.
Tenor war begeistert von der Idee. Er wählte zeitgenössische Werke aus: Arvo Pärt, Steve Reich, Ollivier Messiaen, Esa-Pekka Salonen, Igor Strawinski, Pierre Boulez und Edgar Varese.
Tenor mixte, editierte und fügte neue Grooves und Instrumentierungen hinzu. Täglich schickte er uns den neuesten Stand seiner Bearbeitungen zu. Highlight war Strawinskis „Le Sacre du Printemps“.
Doch halt: Strawinski war 1972 gestorben. Wir brauchten die Genehmigung von den Nachlass-Verwaltern und dem Verlag. Der Verlag Boosey & Hawkes signalisierte uns: der „Sacre“ ist die „heilige Kuh“ im Hause. Die verantwortlichen B&H-Repertoiremanager in Berlin machten uns dennoch Mut: ihnen gefiel Tenors Bearbeitung. Doch das letzte Wort hatte ein alter Vertrauter von Strawinski. Wir legten der Musik ein ausführliches musikwissenschaftliches Gutachten bei. Vielleicht hilft das? Man ließ sich Zeit im Strawinski-Lager. Ein Jahre später kam die Absage. Nun müssen wir bis 2041 warten. Dann ist Strawinki 70 Jahre tot.
Es blieb zäh: Arvo Pärt und die Witwe von Messiaen verweigerten ebenfalls die Freigabe. Tenor hatte alle Titel fertig produziert. Er war verzweifelt. Ich auch.
Inzwischen hatten wir eine weitere Edition mit Matthias Arfmann angeschoben. Arfmann spielte in den 80er Jahren bei den „Kastrierten Philosophen“ und gründete später den „Turtle Bay Country Club“. Außerdem produzierte er Jan Delay. Unabhängig von uns hatte er die gleiche Idee. Mit Peter Imig, Henrik Haubold und der Sängerin Onejiru bastelte er an bekannten Klassikmotiven: Gustav Holst „Die Planeten“, Dvorák „Aus der Neuen Welt“, Richard Wagner „Holländer-Ouvertüre“ uva. Pop, Dub und Afro waren die Zutaten. Das Ausgangmaterial kam von Herbert von Karajan und den Berliner Philharmonikern. Die nötigen Freigaben seitens der Karajan- Familie und den „Phillies“ wurden uns bereitwillig erteilt.Arfmanns Bearbeitungsansatz war komplett anders als Tenors. Arfmann machte Pop – Tenor machte Avantgarde. Arfmann für das Radio, Tenor für das Feuilleton. Mit Namen wie Boulez, Varese, Reich im Zusammenhang mit Jimi Tenor lässt sich das Feuilleton leichter ködern als mit Karajan, Grieg, Dvorák und Arfmann.
Beide Alben wollten wir parallel veröffentlichen. Der Vergleich sollte neugierig machen. Doch aufgrund der extremen Verzögerungen beim Freigabeprozess der Tenor-Bearbeitungen, zogen wir die Arfmann-Veröffentlichung vor. Wie erwartet, ignorierte das Feuilleton die Veröffentlichung. Auch sonst waren die Reaktionen nicht wie erhofft: den Radio-DJs war die Single zu komplex, den Club-DJs zu entspannt, den Lounge-DJs zu melodisch und den Klassikfans war das Album zu loungig.
Gut ein Jahr später zogen wir mit Jimi Tenor nach: das Album war radikal. Die Kritiker waren begeistert. Die Verkäufe waren bescheiden. Doch die „Deutsche Grammophon“ war plötzlich unberechenbar.
Das Tenor-Album wurde in Teilen zur Yellow-Lounge Popkomm 2006 präsentiert. Aufgeführt vom großen Orchester der Deutschen Oper Berlin. Angeführt von Jimi Tenor.

Wir blieben dran: das dritte Recomposed-Album produzierten Moritz von Oswald und Carl Craig. Von Oswald ist klassisch ausgebildeter Schlagzeuger. Er trommelte unter anderem im Jugendorchester des Schleswig-Holstein-Festivals unter der Leitung von Sergio Celibidache und Leonard Bernstein. Lennie hatte bei den Proben ein Auge auf den gutaussehenden Moritz geworfen. Der ließ ihn jedoch abblitzen.
Moritz ist einer der wenigen klassischen Musiker, die Pop im Blut haben. Anfang der 80er Jahre spielten wir gemeinsam bei den „Doraus & Marinas“ und bei Palais Schaumburg in Hamburg. Moritz groovte wie kein Zweiter. Ausgenommen vielleicht Steve Gadd.
Mitte der 80er Jahre verließ Moritz Hamburg und zog mit seiner Familie nach Berlin. Von hier startete er eine beispiellose Karriere als Techno- und Elektronikkünstler.
Recomposed war seine erste Verknüpfung der beiden musikalischen Welten. Carl und Moritz pickten zwei Hits der klassischen Musikliteratur: „Pictures At An Exhibition“ von Mussorgsky und den „Bolero“ von Maurice Ravel. So mutig wie die Wahl der Werke war, so mutig war auch die Bearbeitung: der Bolero stand am Ende ohne Schlagzeug da. Neue Facetten der Werke wurden zu Tage gefördert. Sie schufen über 60 Minuten eine neue Komposition.
Erneut bildeten die Originalaufnahmen von Herbert von Karajan und den Berliner Philharmonikern die Basis. Karajan zog ins Popfeuilleton ein: auf 3 Seiten beschwor Oswald im Spex-Magazin die Bedeutung von Karajan für die Musikgeschichte.
Und wiederholt hatten wir Copyrightprobleme: Ravel hatte in einigen Ländern einen längeren Schutz als in Deutschland. Deshalb wurde das Album nicht weltweit veröffentlicht. Es wurde aber dennoch das bislang erfolgreichste Album der Reihe.
Der vierte Streich kam von Matthew Herbert. Einer der außergewöhnlichsten Künstler unserer Tage. Herbert steht für Qualität, Humor, Haltung und Geschmackssicherheit. Einige Jahre zuvor hatte er abgesagt. Wegen akuter Überlastung. Ein chronischer Zustand bei ihm. Jetzt sagte er zu. Er wählte Mahlers 10.Sinfonie. Die Unvollendete. In einer Einspielung von Giuseppe Sinopoli mit dem Philharmonia Orchestra. Herbert nahm nur kleine, subtile Veränderungen vor – ohne den Charakter des Werkes zu verändern. Mahler-Kenner zeigten sich beeindruckt: kürzlich wurde er mit seiner Interpretation zu den Mahler-Festspielen in Südtirol eingeladen.
„Recomposed“ etablierte sich als innovatives Projekt. Künstler kamen unaufgefordert mit neuen Vorschlägen. Die „New York Times“ besprach die Serie. Und in meinem kleinen Plattenladen um die Ecke lächelte mich „Deutsche Grammophon“-Vinyl an. So war das gedacht. Auch wenn die Verkäufe hinter den Erwartungen lagen.
Das änderte sich mit der nächsten Veröffentlichung. Der Komponist Max Richter und sein Manager Matthias Schneider klopften an: Max würde gern Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ bearbeiten. Eine Spitzenidee: Max Richter mit Melodie!
Er suchte sich die „Archiv“-Produktion von „The English Concert“ aus. Doch kurze Zeit später änderte er seine Planung: er wolle nicht remixen sondern das Konzert umschreiben und neu einspielen. Recomposed im wahrsten Sinne des Wortes.
Gesucht wurden nun Orchester, Dirigent, Solist. Ich erzählte Daniel Hope von der Idee. Er war sofort begeistert und wollte dabei sein. Ebenso der Dirigent André de Ridder und der Intendant des Konzerthauses am Gendarmenmarkt Sebastian Nordmann, der sein Orchester zur Verfügung stellte. Ein Dreamteam.
Bereits beim ersten Abhören der Aufnahme war klar: das ist ein Hit! Max Richter hatte subtil die Vivaldi-Melodien verarbeitet, neue Minimal-Elemente eingebaut und eine Soundästhetik geschaffen, die eine Benchmark für jede weitere Klassikeinspielung ist. Die Musiker taten mit ihrem Spiel ihr Übriges.
Richter gelang der Crossover zwischen Klassik und Pop. Crossover im guten Sinne. Er verknüpfte Klassik- und Pop-Referenzen. Steve Reich, Arvo Pärt, Brian Wilson, Antonio Vivaldi und letztlich Max Richter.
Schnell chartete das Album in Deutschland. International musste etwas Überzeugungsarbeit beim Universal-Headquarter geleistet werden. Zwar lag das Album seit Wochen bei den Verantwortlichen vor, doch es waren erst die großartigen Kritiken im Guardian, der Times und weiteren Blättern sowie ein ausverkauftes Haus im Barbican-Center, die zur Chef-Frage führte: „Who is this Max Richter?“ Richter hatte –unabhängig von Universal Music – eine PR-Agentur eingeschaltet, die für die nötige Aufmerksamkeit sorgte.
Das Album enterte nun auch in England und den USA die Charts. Es folgten viele Live-Performances, der Echo und es wird sicherlich noch mehr Erfolgsmeldungen geben.
Who’s No.6?

Und hier das Video zu “Summer 1” mit Max Richter, Daniel Hope, André de Ridder und dem Konzerthausorchester Berlin:

http://www.klassikakzente.de/recomposed/videos/detail/video:279109/recomposed-by-max-richter-summer-1

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