Hitwärts!


Plötzlich war Jazz wieder hip. In London machte das Acid Jazz-Label Furore, in New York drehte Spike Lee den Film „Mo Better Blues“ und in Hamburg tanzten wir im Mojo Club, der zunächst noch in der Prinzenbar ansässig war. In Frankreich vervielfachte Jean-Philippe Allard – Jazz-Direktor bei Polygram – mit spektakulären Marketing- und Künstleraktionen die Umsätze im Jazzbereich. Der Polygram-Weltchef Alain Levy war ein Franzose, also lag es nahe, auch in Deutschland den Jazz mit Manpower und Budget auszustatten.

Die Aufgabe wurde dem Shootingstar bei Polydor – Tim Renner – aufgetragen. Tim hatte sich innerhalb von drei Jahren erfolgreich einen außergewöhnlichen Künstlerstamm aufgebaut mit Namen wie Element of Crime, Phillip Boa oder den Jeremy Days. Alain Levy hatte bereits ein Auge auf die Arbeit von Tim geworfen, als er noch „einfacher“ Produkt- und A&R-Manager war.

Ich kannte Tim aus Schulzeiten. Er ging auf das Nachbargymnasium in Poppenbüttel und war eindeutig Musikfan. Tim produzierte ein Kassetten-Fanzine, war Radio-DJ beim NDR („Musik für junge Leute“) und Tourmanager der „Doraus & Marinas“, bei denen ich Saxophon spielte.

Die Stelle des Jazz-Produktmanagers wurde Anfang 1990 ausgeschrieben, doch keiner bewarb sich darauf. Jazz war bislang nur ein Spezialistenthema in Deutschland und mit dem Image des pfeiferauchenden Lehrers verbunden. Ich hatte derzeit gerade meinen ersten Job bei der Teldec als Produktmanager für das PWL-Label begonnen und war unter anderem für die Vermarktung von Jason Donovan und Kylie Minogue zuständig. Ich hatte dort wenig Spaß – keiner fühlte sich für meine Einarbeitung zuständig und der Geschäftsführer Jürgen Otterstein war ein harter Knochen: einmal in der Woche liess er seine Produktmanager gemeinsam mit dem Vertrieb antreten und machte sie förmlich lang. Dazu kam, dass die großen Tage von Stock, Aitken und Waterman vorbei waren – eine Single nach der anderen floppte. Meinetwegen? Nein, PWL war over. Überall. Für das Konzert von Kylie Minogue in der Hamburger Sporthalle waren kurz vor dem Termin keine 1000 Tickets verkauft. Die Tour wurde abgesagt. Deshalb war es eigentlich perfekt, als Renner mich fragte, ob ich den Jazz-Job machen wolle. Doch ich lehnte zwei Mal ab, da ich mir vorgenommen hatte, meinen ersten Job zwei Jahre durchzuziehen. Tim stand jedoch unter Zugzwang. Auf die interne Ausschreibung bewarb sich niemand – mehrere Wochen blieb das attraktive Angebot unbeachtet. Das Jazz-Revival hielt zwar in den kleinen Clubs Einzug, aber bei Polygram wollte sich damit noch niemand auseinandersetzen.

Renner fragte ein drittes Mal nach und zog die Karte des Sympathieträgers der Firma: Polydor-Geschäftsführer Götz Kiso, Typ „fürsorglicher Großvater“, erstaunlicherweise sieht er auch heute noch so aus wie vor 25 Jahren. In seiner väterlichen Art sagte er: “Ach, Herr Kellersmann, was wollen Sie denn bei der Teldec….?“

Wir wurden uns schnell einig: mein erster Tag sollte der 1.7.1990 sein. Als ich vom Gespräch mit Götz Kiso nach Hause kam, fand ich eine Absage von Polygram in meinem Briefkasten vor. Ich hatte 10 Monate zuvor an die Personalabteilung eine Initiativbewerbung als Produktmanager abgeschickt. Damit war schon mal eines klar: einige Kollegen in den anderen Abteilungen hatten einen etwas anderen Groove….

Gleich zu Beginn meiner Tätigkeit erhielt ich eine große Schreibtischunterlage. In fetten Lettern stand dort deutlich zu lesen: „Hitwärts!“ Die Initiative kam vom Polygram Präsidenten Wolf-Dieter Gramatke. Alle Produktmanager im Hause bekamen diese Unterlage, die quasi meine „Checkliste“ wurde. Besonders bemerkenswert fand ich, daß nur drei Musik-Genres unterschieden wurden: Rock – Klassik – Jazz. Auch wenn es vielleicht schade war, daß Pop, Schlager, Alternative, Dance, Reggae, Punk, Crossover, Soul oder Funk keine Rolle spielten, gefiel es mir doch sehr gut, daß man den kulturell wichtigen Genres Klassik und Jazz in dieser Firma eine so starke Aufmerksamkeit schenkte. Da sollte ich mich lange wohlfühlen. Und dank der wichtigen Tipps auf der Schreibtischunterlage, konnte ich hin und wieder auch das erklärte Motto einlösen: „Ab in die Charts!“

7 Kommentare

  1. Stephan Lamby am

    gute Geschichte. Wann geht sie weiter? Und wie geht sie aus? Mit Happy end oder ohne? Grüße aus der Heimat

  2. GB am

    Wunderbar, wie im Märchen :-) War ja damals auch alles ziemlich märchenhaft.
    Und zum Foto von Herrn Kiso und Renner: Cover von Ella und Jimmy Smith neben der Damentoilette – Respekt!

  3. Wolf Gramatke am

    Lieber Christian,
    das ist eine prima Idee! So sehe ich auch meine “Schreibtischunterlage” mal wieder. Hat ja dann wohl doch irgendwie ihren Zweck erfüllt!
    Ich erinnere mich noch gut an Ihr erstes Büro bei Renner, Chaos war eine Untertreibung, aber effektiv war es und erfolgreich, wie die Geschichte beweist!
    Freue mich auf mehr.
    Wolf-D.

  4. Michael Kramer am

    Lieber Christian,

    tolle Idee und längst überfällig. Haben wir nicht alle mehr oder weniger spannende Geschichten aus dem Musikbizz zu erzählen. Du fängst wenigstens schon mal an und so bleibt das Feld nicht nur Renner überlassen. Ich erinnere mich noch gut an die gemeinsame Zeit, auch wenn diese nur knapp ein Jahr dauern sollte. Deine Zeit bei der Polygram begann, meine endete nach 10 Jahren im Sommer 1991. Heute kann ich sagen, Wolf Gramatke sei Dank – was ich aber damals noch nicht so sehen konnte. Viel Erfolg mit Deinem Blogg und allem was Du sonst so treibst. Ich freue mich auf jeden Fall auf beste Unterhaltung. Und bald gibt es ein Familientreffen, Jürgen Rau arbeitet schon dran. :D

    LG,
    Michael

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