Jazz For Lovers & Walter Thielsch
Eines Tages im Jahr 1992 saß ich mit unserem damaligen Polydor Geschäftsführer Götz Kiso zusammen. Herr Kiso – so spreche ich ihn auch heute noch an – war ein toller Chef. Er kam täglich kurz nach 10 Uhr ins Büro. Immer mit gesunder Hautfarbe, die er vom Golfen hatte. Denn gegen 16.00 Uhr verliess er regelmäßig das Büro, um mit irgendwelchen Managern oder Künstlern die jeweiligen Handicaps auszuloten. Morgens brachte er dann stets einen neuen Deal mit einem alten Schlagerstar mit – klargemacht bei Loch 18 – den dann die Abteilung „Pop“ abarbeiten musste. Unsere Abteilung „Progressive Music“, unter der Leitung von Tim Renner, blieb verschont von seinen Golfplatzdeals, nur sehr selten bekamen wir einen Künstler von ihm „aufgedrückt“. Unsere Künstler golften nicht.
Doch sobald Herr Kiso Umsatzpotential roch, konnte er auch in unsere Richtung ziemlich penetrant sein. Bei besagtem Meeting mit ihm rutschte mir also ein Gedanke heraus: „Jazz For Lovers“, sagte ich leise. Und im gleichen Moment bereute ich es. Denn es war die große Zeit der Compilations. Besonders erfolgreich war „Kuschel-Rock“ von der Sony. Eine Kopplung also, die alles andere als cool war aber enorme Umsätze generierte. Herr Kiso durfte keine Kopplungen machen, denn bei Polygram waren die Firmen inhaltlich getrennt: für die Vermarktung von Künstlern war Polydor verantwortlich – für Kopplungen „Polymedia“. „Polymedia“ war der umsatzstärkste Bereich bei Polygram. Nur Jazz fassten die Kollegen von Polymedia nicht an: der war ihnen dann doch zu schmuddelig und vor allem unkommerziell.
Doch Herr Kiso glaubte an den Erfolg von Jazz und stieg sofort auf die „Jazz For Lovers“- Idee ein. Renner und mir war das peinlich. Gerade hatten wir uns mit der „Tempo Jazz Edition“ und den Talkin’ Loud-, Mojo-Club- und Brasil-Kopplungen einen coolen Ruf in der Szene erarbeitet. Das könnte jetzt durch ein „Me too“-Kuschelrock-Produkt aufs Spiel gesetzt werden. Aber Herr Kiso war der Chef und wir mussten da jetzt durch. So entwickelten wir den Ehrgeiz, einen Jazz-Sampler zu veröffentlichen, den alle mögen mussten. Von der Friseurin bis zu unserer Rockabteilung. Und tatsächlich gelang uns eine Zusammenstellung, die unseren Anspruch an Funktionalität und zugleich Musikalität erfüllte. Nur das Cover war eine Katastrophe! Wir hatten gelernt, Cover mit „richtigen“ Künstlern zu machen. Aber wir hatten keine Ahnung davon, wie man ein massenkompatibles Marketingprodukt aufsetzte. Also setzten wir ein Fotoshooting mit zwei mittelmäßigen Models an und packten ein Saxophon dazu. Es war teuer, lieblos, spiessig. Ich glaube, es war das schlechteste Cover, was je über meinen Tisch ging. Kuschel-Rock war Kunst dagegen.
Die CD wurde veröffentlicht. Das Marketingbudget war üppig, der „Druck von oben“ war groß – wir stellten viel Ware in den Markt. Die CD „floss“ ordentlich ab, wenn auch nicht auf Kuschelrockniveau. Grünes Licht also für Volume 2. Die Losung war: Hauptsache ein gutes Cover. Koste es, was es wolle. Wir beauftragten Walter Thielsch.
Walter war eine vielschichtige Persönlichkeit. In den 60er Jahren war er Beatnik und hatte noch die Beatles live gesehen. Er arbeitete als Journalist, Texter, Grafiker und Musiker. Ich lernte ihn in den frühen 80er Jahren kennen. Obwohl über 10 Jahre älter, war er in unserer Szene willkommen. Er hatte das Wissen eines 40-jährigen und sprach die Sprache eines 20-jährigen. Ich sah ihn fast jeden Sonntag beim Fußball-Match in Hamburg Hummelsbüttel, wo sich Musiker aus verschiedenen Hamburger Bands trafen (und die abendlichen Exzesse des Wochenendes ausschwitzten und analysierten). Walter, der sonst immer sehr entspannt war, konnte auf dem Fußballfeld richtig hitzig werden.
1981 ersetzte er dann Holger Hiller bei Palais Schaumburg, Hamburgs coolster Band. Dort traf Walter dann auf Thomas Fehlmann, Timo Blunck und Ralf Hertwig. Hiller war der charismatische Frontmann von Palais Schaumburg gewesen. Ihn zu ersetzen, schien undenkbar. In dieser Zeit lernte ich Walter näher kennen, da Palais Schaumburg im Herbst 1982 einen Bläser und einen Vibraphonisten für 2 UK-Gigs und für die John Peel-Session benötigten. Sie fragten Moritz von Oswald und mich, ob wir dabei wären. Der erste Gig in London war ausverkauft. Wir waren Headliner und räumten ab. Danach folgte die John Peel-Seesion. In 4 Stunden nahmen wir vier Titel in einem ranzigen Londoner Kellerstudio auf. Nie klang Palais Schaumburg frischer und fetziger als auf den Aufnahmen. Das zweite Konzert fand in der Hacienda in Manchester statt. Englands hipster Laden. Es stimmte alles: die Bühne, der Sound, die Videoprojektionen, der Backstagebereich, die Inhaber (das Factory-Label). Die Tatsache, daß nur ca. 50 zahlende Zuschauer vor Ort waren, wurde wettgemacht durch die Anwesenheit von Pete Shelley (Buzzcocks). Er allein zählte wie ein ausverkauftes Haus.
Palais Schaumburg: “3 nach 9” aus der John-Peel-Session.
Meine Zusammenarbeit mit Palais Schaumburg wurde bei zwei erfolgreichen New Yorks-Gigs Weihnachten 1982 in der „Danceteria“ fortgesetzt. Wir verbrachten 10 Tage in New York. Walter, seine damalige Freundin Bettina und ich besuchten einige außergewöhnliche Konzerte, darunter eine vierstündige legendäre Show von George Clinton’s P-Funk-All-Stars.Unser Hotel war das „Carlton Arms“. Erkennungsmerkmal: kratzende Kakerlaken unter den Tapeten. An der Rezeption arbeitete der Sounds-Journalist Hans Keller. Ihm verdanke ich meine musikalische Bekanntschaft mit Irma Thomas und Allen Toussaint. Er überspielte mir ein Tape mit Songs, die bis heute für mich einzigartig sind: „Ruler of my Heart“ oder „It’s Raining“.
Nach den New York-Gigs verliess ich Palais Schaumburg und konzentrierte mich wieder auf „Die Zimmermänner“ und die „Doraus und Marinas“ – beide Bands lagen mir musikalisch mehr am Herzen. Walter schied auch kurz nach dieser Zeit aus. Palais Schaumburg veröffentlichte als Trio noch ein Album und löste sich dann auf. Erst ab 2011 reformierten sie sich in der Originalbesetzung mit Holger Hiller.
Seit dieser Zeit nun kannte ich Walter. Als ich 1990 den Jazz-Product-Manager-Job bei der Polydor begann, trafen Renner und ich uns häufiger mit Walter. Er hatte die Fähigkeit, Sachverhalte aus einem völlig unerwarteten Blickwinkel zu sehen. Manchmal war es nicht einfach, seinen Gedanken zu folgen, da er scheinbar wirr assoziierte – meistens waren es jedoch visionäre Ideen. Wir sprachen über unseren Jazz-For Lovers-Coverfrust und er schlug vor, beim nächsten Shooting drei Models zu nehmen: zwei Männer und eine Frau. Das gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht! Wir setzten die Idee um. Schade nur, daß auf keinem Foto alle 3 Models perfekt aussahen, so daß es nur im Booklet einen „Dreier“ gab .
Für „Jazz For Lovers Vol. 3“ holten wir selbstverständlich wieder Walter an Bord – und dieses Mal wollte er noch mehr Models: in Anlehnung an das Jimi Hendrix-Cover „Electric Ladyland“ schlug er vor, richtig viele Frauen und Männer zu casten und zu fotografieren. Nackt. Ein teurer Spaß. Zu teuer für ein Albumcover. Doch wir fanden eine Lösung: Renner und ich waren für ein Wochenende in Moskau und besuchten Michail Sigaloff. Sigaloff war gut vernetzt in der deutschen und russischen Kulturszene. Was er genau machte, wusste man nicht, aber das war auch irgendwie egal (er war mit der Tochter von Gorbatschow liiert und brachte den ZK-Generalsekretär Ende der 90er Jahre zur Popkomm nach Köln. Ostern 2002 wurde Sigaloff tot in seiner Moskauer Wohnung aufgefunden. Nähere Umstände wurden nie bekannt). Sigaloff zeigte uns an diesem Wochenende voller Stolz das neue Moskau: der Westen war der neue Standard. Renner und ich suchten noch die letzten Reste des Sozialismus und wollten zumindest einmal etwas Kaviar essen – das klappte gerade mal im italienischen Restaurant, wo es Sphagetti mit Kaviersauce gab. Als wir mit Sigaloff über unsere Jazz For Lovers-Coveridee sprachen, erwähnte er, daß er einen guten Fotografen in Moskau kenne, mit dem man dieses Shooting umsetzen könne. So trafen wir den Fotografen Sergei Borisov – er hatte eine tolle Mappe mit außergewöhnlichen Bildern. Wir engagierten ihn.
Walter flog einige Tage später nach Moskau, wo die Fotosession mit insgesamt 17 gutaussehenden Modells stattfand. Das Resultat war ein großer Spaß: ein derartiges Covermotiv gab es bis zu dem Zeitpunkt noch nicht in Deutschland. Und schon gar nicht bei den TV-beworbenen „Kuschel“-Samplern. Unser Grafiker Dirk Rudolph sorgte für die moderne Optik. Dass wir damit in drei Schritten die Corporate Identity unserer Serie zerstört hatten, nahmen wir in Kauf. Auch die Tatsache, dass die Verkäufe in den Keller gingen, war egal. Hauptsache, die Serie war cool! Wir setzten „Jazz For Lovers“ noch um einige Volumes fort. Das Niveau von der Moskau-Edition wurde jedoch nie wieder erreicht.
Mit Walter setzte ich später noch einige weitere schöne Ideen um. Darüber mehr ein andermal.
Tolle Geschichte, Kellyman! ;)
bitte weitermachen mit den unterhaltsamen geschichten aus dem nähkästchen!
Dass ich jemals ein Fussballspiel wegen Verlierens vorzeitig verlassen hätte, ist der vielleicht grösste Unsinn, der je über mich geschrieben wurde. Ich vermute, es war es so, dass ich an jenem Sonntag verhindert war, weil ich ein Rendezvous mit Amanda Lear hatte.
… love it … :-)
Als wäre es gestern…..
Die Fotos sind der Hammer
sigaloff r.i.p. – war ein seltsamer mensch vom guten herzen, diesen tod hatte er keinesfalls verdient. klasse geschichte mit der kopplung, erzähl ruhig weiter! wie sehr ich damals vol. 3 wegen der idee und realisierung der frontgestaltung bewunderte.
Den mit ? auf dem Fußballbild gekennzeichneten Typ nannten wir Maradona, manchmal auch Maracuja. Und hatte Sigaloffs Tod nicht etwas mit Verletzungen zu tun, die er sich ein paar Jahre zuvor bei einer Schießerei zugezogen hatte?
Moritz hätte doch niemals ein Fußballspiel vorzeitig abgebrochen, nur weil er mit seiner Mannschaft auf der Verliererstraße war! Das wäre ja nun der größte Unsinn, der je über ihn geschrieben wurde. Hatte er nicht vielmehr zu jener Zeit ein Techtelmechtel mit dieser gewissen Amanda aus Leer?
Walter Thielsch war in der Tat ein eisenharter Bolzer! Das Fußballfoto dürfte von 1982 sein, roundabout.
Kaviar gibt’s im frisch renovierten Moskau inzwischen (wieder) an jeder Straßenecke – wenn man ihn denn bezahlen kann. Das Essen ist generell sensationell, und in den Lebensmittelgeschäften bekommt man frische Früchte, von denen man hier noch nie gehört hat. Die vielen Bettler und Obdachlosen stören auch nicht, sie werden jeden Morgen an die Stadtgrenze gekarrt.
Auf dem Fake-Cover hat Kellerman ja ganz schön Druck auf den Hupen…