Adeus Rio

Zurück in Berlin. Das Taxi hält vor unserer Haustür. Acht Koffer und diverses Handgepäck stehen minutenlang auf dem Bürgersteig. Unbewacht. Kein Problem: hier kommt nix weg. Willkommen in Deutschland.

Unsere letzten Wochen in Rio standen unter dem Zeichen der Fußball-WM. Mit dem Tag des Eröffnungsspiels begann die Euphorie. Zuvor interessierten sich nur die ausländischen Medien für die anstehenden Ereignisse in Brasilien.  Überfälle, Schießereien, Schönheitsideale, Streiks, halbfertige Stadien, String-Tanga-Mode, Verkehrschaos waren die lokalen Themen. Alltag in Brasilien. Die eventerprobten Cariocas blieben gelassen: jährlich besuchen Millionen Touristen den Karneval, das Silvesterfeuerwerk oder sonstige Großveranstaltungen wie den Papstbesuch oder das Rolling Stones-Konzert an der Copacabana. Bei allen Gelegenheiten – egal ob Grillfest, Strandparty oder WM – beginnt die Party mit dem Anpfiff. Und dann aber richtig! Sorgen und Probleme? Vergessen!

Die Erwartungen der Brasilianer wurden auf den Kopf gestellt. Deren Prognose: Chaos außerhalb der Stadien und WM-Sieg der Seleção im Stadion. Doch während die Organisation perfekt verlief, versagte die Mannschaft.

Die 7:1–Niederlage der brasilianischen Elf im Halbfinale gegen Deutschland wird – wie der 2:1 Sieg von Uruguay beim Endspiel 1950 – noch Jahrzehnte nachwirken. Kurzfristig erhielt ich zwei Tickets für dieses Match. Am Tag des Spiels um 6.00 Uhr morgens verließ ich mit meinem Freund Felippe die Stadt. Flüge, Busse und Hotels nach und in Belo Horizonte waren komplett ausgebucht. Eine Bahnverbindung zwischen den beiden Landeshauptstädten gibt es nicht. Die einzige Alternative war der Mietwagen.

Die Straße: holprig. Die Landschaft: herrlich. Erste Rast um 7.30 Uhr im „Casa de Alemão“ bei Teresopolis. Der Klassiker unter den Autobahngaststätten. Beste Stimmung bei den vielen deutschen und brasilianischen Fans.  Zweiter Stopp: Congonhas. Wir besuchten die „Bom Jesus do Congonhas“-Kirche. Weltkulturerbe.  Keine WM-Touristen. Felippe unterstellte mir nach dem Spiel, dass ich dort heimlich Stoßgebete in den Himmel geschickt hätte. Aber mich beeindruckte mehr die zweite Kirche, die wir vor dem Stadion von Belo Horizonte besichtigten: die „Igreja de São Francisco de Assis“. 1943 entworfen von Oscar Niemeyer. Mit Mosaiken und martialischen Zeichnungen von Portinari. Gespräche aus dem Beichtstuhl sollen in jedem Winkel der Kirche gut hörbar sein. Die Stühle sind aus Plastik: Modell „Botequim“. Ob Niemeyer die zu verantworten hatte, weiß ich nicht. Lange weigerte sich die katholische Kirche, diesen Ort zu weihen. Jetzt finden hier regelmäßig Gottesdienste statt.

Vor dem Spiel Lunch im Restaurant Xapuri. Belo Horizontes erste Adresse für regionale Küche, die landesweit zur besten zählt. Deftig, rustikal und lecker. Hunderte brasilianische und deutsche Fans hatten die gleiche Idee. Die Stimmung war ausgelassen, alle waren bereits Sieger. Wir stolperten in eine kleine geschlossene Gesellschaft von Brasilianern. SAP hatte geladen. Stargast: der Kapitän der brasilianischen Siegerelf von 1970: Carlos Alberto. Nach kurzer persönlicher Begrüßung durch Felippe („Hey, Captain“) verließen wir lieber schnell den Saal.

Noch 90 Minuten bis zum Anpfiff. Wir standen wenige Meter vor dem Stadion. Plötzlich hysterische Jubelrufe: der Bus mit der brasilianischen Mannschaft fuhr direkt an uns vorbei. Leider ohne Neymar, sagte ich zu Felippe. Keine fünf Minuten später: ein gellendes Pfeifkonzert. Der Bus mit der deutschen Nationalmannschaft. Klare Überzahl der Brasilianer im Publikum.

In unserem Block waren wenige Deutsche. Hinter uns stand eine junge Brasilianerin in deutschem Shirt. Sie liebe Deutschland, sagte sie. Deutsch sprach sie nicht.

Das Spiel ist Geschichte. Vier Tore innerhalb von wenigen Minuten. Ein K.O. des fünfmaligen Weltmeisters. Ohnmacht, Fassungslosigkeit, Tränen, Verzweiflung auf der einen Seite und erst offener dann gedämpfter Jubel und Mitleid auf der anderen Seite. In der ersten Halbzeit hielt es keinen auf seinem Sitz, in der zweiten Halbzeit wollte keiner mehr stehen. Nur die junge Brasilianerin im deutschen Shirt jubelte lautstark beim 7:0 in unserem Block. Ihr Vater schaute beschämt weg.

Nach dem 3:0 übertönte die Handvoll deutscher Fans das gesamte Stadion. Normalerweise sind 5 Brasilianer lauter als 100 Deutsche. Jetzt war es umgekehrt.

Endlich Schlusspfiff. Ich nahm die Glückwünsche der traurigen Brasilianer entgegen. Mit einer Träne im Auge. Ich fühlte mit ihnen. Jedes Tor löste Freude und gleichzeitig Trauer aus. 10 Monate Aufenthalt in Rio verändern.

Die deutsche Mannschaft war von Beginn beliebt bei den Brasilianern. Neben der Spielerauswahl beeinflussten zwei weitere Entscheidungen den Erfolg:

1. Deutschlands Ersatztrikot Modell „Flamengo“: Flamengo ist Brasiliens populärster Fußball-Klub mit 45 Millionen Fans. Dieses Shirt trug die deutsche Elf in Belo Horizonte.  Nur warum steht Flamengo aktuell auf dem Abstiegsplatz in der laufenden Saison?

2. Das deutsche Trainingslager „Campo Bahia“. „Hier sind die Götter zu Hause. Ein gesegneter Ort“, stellte Felippe fest.

Die Rückfahrt von Belo Horizonte nach Rio legten wir in Rekordzeit zurück. Unsere ursprüngliche Planung, in einer schönen alten Goldgräberstadt Station zu machen, wurde bereits während des Spiels verworfen. Felippe grummelte sich nach Hause.

Der Finalsieg der Deutschen gegen Argentinien war ein Trostpflaster für die Brasilianer. Es wäre nicht auszudenken gewesen, wenn 200.000 größtenteils vagabundierende Argentinier den Sieg in Rio gefeiert hätten. Mehrere Tage belagerten sie den Copacabana-Strand, nächtigten im Sand und auch auf dem Bürgersteig vor unserer Haustür. Sehr mutig. Nach der Finalniederlage gaben sie sich enttäuscht, demütig und respektvoll. Geradezu rührend.

Viel wurde über Unruhen in Brasilien vor der WM berichtet. Eine brenzlige Situation erlebten wir in den letzten Monaten jedoch nur einmal. In Uyuni/Bolivien. Zwei Tage besuchten wir dort die sehenswerte Salzwüste. Am Abend vor unserer Weiterreise informierte uns die Hotelleitung, dass der Linienbus bereits zwei Stunden früher als geplant den Ort verlassen würde. Die Ein- und Ausfahrt der Stadt sei von Demonstranten verbarrikadiert. Am Morgen gäbe es eine kleine Chance, den Posten zu durchbrechen.

Abfahrt um 9.00 Uhr. Alle Plätze im Bus waren besetzt. Wir näherten uns dem Stadtrand.  30 Polizisten standen ausgerüstet mit Helmen, Schutzschildern und Gummiknüppeln in Reihe. Direkt dahinter die Gruppe von Demonstranten. Der Bus nähert sich den Barrikaden. Plötzlich schmeißt ein Demonstrant einen Stein gegen unseren Bus. Dann ein zweiter, dritter…. Die Seitenscheibe des Fahrers wurde getroffen. In der Scheibe ein großes Loch, der Rest des Glases kristallisiert. Die Polizei rührte sich nicht. Ein Weiterfahren wäre gefährlich geworden. Wir mussten umkehren. „Das passiert hier 3 bis 4 Mal pro Jahr in jeder Stadt“, sagte ein bolivianischer Mitfahrer gelassen. „Wenn die Forderungen nicht schnell genug erhört werden, könnte der Protest mit einem Hungerstreik fortgesetzt werden“.

Zweiter Versuch um 12.00 Uhr. Eine alternative Route durch die Wüste. Alle Fenster wurden geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Der Bus war nicht klimatisiert, die Sonne brannte. In einer Kolonne mit zwei weiteren Bussen verließen wir Uyuni. Doch nach kurzer Zeit mussten wir abermals die Fahrt abbrechen, da die Busse im Sand steckenblieben. Die letzte Möglichkeit: ein Taxi, Jeep, Vierrad-Antrieb durch die Wüste, großer Umweg. Tage später war der Konflikt noch immer ungelöst, wie wir der Headline einer überregionalen Zeitung entnahmen.

Das Klassik-Highlight der letzten Monate war die Oper „Carmen“ im Teatro Amazonas in Manaus. Die Tage zuvor durchkämmten wir den Dschungel, angelten Piranhas, aßen Larven und lauschten unbekannten Tiergeräuschen. Die Luftfeuchtigkeit: knapp 100%. Kurz danach saßen wir in der klimatisierten barocken Oper. Bei exzellenter Akustik und hohem schauspielerischen und musikalischem Niveau. Ein exotisches Opernerlebnis.

Ich erlebte erstmalig eines der seltenen Konzerte von Edu Lobo. In der „Biblioteca Parque Estadual“ vor knapp 100 Zuschauern. Ein Tribut-Konzert an Vinicius de Moraes, der 2013 hundert Jahre geworden wäre. Schüchtern betritt Edu Lobo die Bühne. Sein Look: unspektakulär. Lederjacke und graue Anzughose. Nach 3 Songs wird er lockerer, erzählt, treibt seine Musiker an. Ein großartiger Sänger, Arrangeur und Komponist.

Atemberaubend das Konzert von Elza Soares, Brasiliens Tina Turner,  mit ihrem Tribut an den Komponisten/Sänger Lupicinio Rodriguez. Elza Soares ist seit den 60er Jahren eine der großen Sambasängerinnen des Landes. Sie war mit Fußball-Genie Garrincha liiert, der wiederum bereits mit 12 Jahren Alkoholiker war. Ihre gemeinsamen Skandale standen denen von Richard Burton und Liz Taylor oder eben Ike und Tina Turner in nichts nach. Auch wenn Elza Soares mittlerweile auf die Bühne geführt werden muss und fast das ganze Konzert in einem großen Sessel sitzt, spürt man mit jedem Ton, wie sie innerlich vor Energie explodiert.

Der Sänger, Pianist, Komponist, Musik- und Gourmetexperte Ed Motta entführte das Publikum mit seinem AOR-Programm in die späten 70er Jahre. Steely Dan und Boz Scaggs mit einem leichten Brasil-Flair.

Moreno Veloso präsentierte sein neues Album „Coisa Boa“. Im Publikum waren auch die etwa 20 Kinder der Bandmusiker im Alter zwischen 3 und 5 Jahren. Es gab Songs, wo sie sich vor die Bühne setzten, lauschten und mitsangen und dann gab es Lieder, bei denen sie ihre Aufmerksamkeit lieber dem Toben durch das Publikum schenkten. Zur Zugabe kamen alle Kinder auf die Bühne. Moreno fragte seinen Sohn nach einem Wunschtitel. „Um abraço“ von Vovô war seine Antwort. Vovô = Opa = Caetano Veloso. Der 72-jährige Top-Star Brasiliens saß im Publikum. Spontan kam er auf die Bühne und sang mit den Kindern gemeinsam diesen Titel.

Weitere großartige Shows sah ich von Alcione, Hamilton de Holanda, Siba, Nicolas Krassik, dem Rio Bossa Club, Miucha, Nina Becker…..

Am 18. August beginnt meine neue Tätigkeit bei der Edel AG als Managing Director von Edel:Kultur. Der Vorstandsvorsitzende Michael Haentjes mailte mich eines Tages an und fragte, ob wir uns treffen könnten. Natürlich, ich sei nur gerade in Rio.  Auch gut, antwortete er,  ein weiterer Grund, mal wieder dorthin zu fliegen. Er kombinierte seine Reise mit einem Besuch bei Alex Atala, dem Spitzenkoch aus São Paulo. Edel veröffentlichte gerade dessen aktuelles Buch. Exotischer Höhepunkt auf Atalas Speisekarte: „Formiga Amazônica“ – die Amazonas-Ameise. Haentjes und ich trafen uns in Rio und wurden schnell einig. Ab sofort stehe ich also wieder im Dienste der guten Musik mit neuen Kollegen und sicherlich vielen schönen Projekten. Alegria!

 

4 Kommentare

  1. Stefanie Zoll am

    wünsche Dir einen tollen Start zurück im wunderschönen Hamburg!
    Grüß mir dir Elbe,

    Alles Liebe von der Spree, Deine Steffi
    hoffe, aber auf noch weitere schöne Anekdoten& Geschichten!

  2. Horst Dengler am

    Willkommen in der Heimat.
    Schöner und spannender hätte man den Reisebricht nicht schreiben können.
    Viel Erfolg bei Edel mit Haentjes und Co.

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